* 24. Oktober 1925
† 27. Mai 2003
von Joachim Noller
Essay
Offenes Kunstwerk und neue Vokalität. In seiner Abhandlung „Das offene Kunstwerk“ beruft sich Umberto Eco ausdrücklich auf Luciano Berio, dessen musikalisches Denken und kompositorische Praxis u.a. die Reflexionen stimuliert hätten. Bestimmte Aspekte von Ecos Theorie, sein Plädoyer für eine neue Wandlungsfähigkeit und Lebendigkeit in der künstlerischen Formbildung, für das nicht bloß inhaltliche Engagement, können – rückbezüglich auf Berios Schaffen angewandt – dem Verständnis dieser Musik zugute kommen. Die „strukturelle Vitalität“ (Eco 1962; dt. 1973, 56) zeitgemäßer künstlerischer Gebilde wird von bloßen Zufallsoperationen scharf abgegrenzt. Der Offenheit des Kunstwerks entspricht – folgen wir Ecos Ausführungen – die Dynamisierung seiner Form, keinesfalls jedoch eine radikale Informalität. Aleatorische Prozeduren können in begrenztem Maße Anwendung finden, bilden aber nie den Hauptaspekt künstlerischer „Offenheit“. Diese wird in Berios Musik einerseits durch Auffächerung und Pluralisierung der Ausdrucksebenen, somit durch Annäherung an kulturelle Gegenwartsstrukturen bewältigt, andererseits durch bevorzugte Heranziehung eines genuin „humanen“ Materials in der musikalisch-akustischen Nutzung von Sprache und Stimme.
Am Beispiel von Sequenza III (1965/66; Nbsp.1) erläuterte Berio die tragende Rolle der Stimme in dieser ästhetischen Umbruchsituation: „Die Stimme, vom unverschämtesten Geräusch bis zum vornehmsten Gesang, bedeutet immer etwas, verweist immer auf etwas anderes ...